„Über mich könnte man eine ganze Zeitungsseite vollschreiben“, sagt Jens Kästel. Der Mann ist nicht etwa selbstverliebt oder hat ein übersteigertes Mitteilungsbedürfnis. Nein, er hat einfach unheimlich viel erlebt, er hat höchst unterschiedliche Seiten und er ist ein interessanter, unangepasster Zeitgenosse.
Wenn jemand den Kreisliga-Spitzenreiter trainiert, muss er natürlich die Frage beantworten, ob er wohl klappt, der Aufstieg in die Bezirksliga. „Ich mag es nicht, wenn Trainer von Spitzenreitern behaupten, erst einmal 40 Punkte gegen den Abstieg sammeln zu wollen“, erklärt Jens Kästel zunächst und sagt dann: „Wir sind oben, wir sind gut und den zweiten Platz wollen wir jetzt auf jeden Fall.“ Alles andere wäre doch wohl Tiefstapelei.
Beim SC Auetal fordere aber niemand etwas. „Der Ehrgeiz und die Motivation gehen allein von den Spielern aus.“ Die Verhältnisse im Verein finde er ohnehin optimal. Das Zusammenwirken mit seinem Trainergenossen Dieter Wagner, den er schon viele Jahre kenne, sei richtig gut, die Rollen geklärt und die Mannschaft beziehe ihre Kraft aus dem Umstand, dass fast alle Spieler aus dem Umkreis kämen. „Das ist eine verschworene Gemeinschaft hier“, sagt Jens Kästel, der Trainerjob mache ihm deshalb sehr viel Spaß und die solide Philosophie des Vereins sei die einzig richtige.
Vergleichen kann Jens Kästel das durchaus, denn er hat wahrlich viel gesehen im Verlauf seiner Fußballkarriere. Groß wurde er in der DDR, spielte beim FC Karl-Marx-Stadt, wie Chemnitz damals hieß, und wurde als besonderes Talent auf einer Fußballschule gefördert. Doch damit war Schluss, als seine Eltern einen Ausreiseantrag stellten. Jens Kästel durfte zwar weiterhin Fußball spielen, wurde aus der staatlichen Ausbildung aber willkürlich ausgeschlossen.
Anfang des Jahres 1989 reiste er mit seinen Eltern aus, neun Monate vor dem Mauerfall. Jens Kästel kam nach Emmerthal, spielte bei Preußen Hameln in der Oberliga, folgte seinem damaligen Mentor Ralf Fehrmann zum TuS Hessisch Oldendorf in die Verbandsliga und wechselte anschließend nochmals für ein Jahr nach Hameln. Als er aus familiären Gründen ins Auetal zog, war er als Spielertrainer beim Kreisligisten SV Hattendorf und beim TuS Apelern, kickte zwischenzeitlich mal beim SC Rinteln und kam schließlich zum SC Auetal, wo er zunächst die Reserve trainierte und schließlich mit Dieter Wagner die Kreisligamannschaft übernahm.
Dass er selbst in den letzten Jahren immer weniger Fußball spielte, hat einen gesundheitlichen Grund: Jens Kästel ist an Multiple Sklerose erkrankt. Er spürte früh, dass etwas nicht stimmt und er bekam die Diagnose schon vor zehn Jahren.
So schleichend, wie der Verlauf dieser Krankheit ist, so unmerklich zog sich Jens Kästel immer weiter aus dem aktiven Sport zurück. Seit einiger Zeit spielt er auch nicht mehr in der Altherrenmannschaft. Selbst Joggen ist mit MS nicht mehr möglich, eine Berufstätigkeit ohnehin nicht.
Jens Kästel wirkt auf Außenstehende wie ein unbeschwerter, sportlicher junger Mann – doch er hat ganz offiziell den Status des Frührentners. „Es wird halt nicht besser“, sagt er.
Aber Jens Kästel hat noch eine zweite große Veranlagung, und die klingt geradezu fantastisch. Es ist die Musik. Im Jahr 1995 gründete er gemeinsam mit Gerrit Thomas die Band „Funker Vogt“, die nur innerhalb eines Jahres zu den führenden Acts in der Elektro-Szene wurde. Der Aufstieg verlief rasant und sensationell. Die Jungs von „Funker Vogt“ machten mit ihrem „Industrial Sound“ eine internationale Karriere.
Die Story klingt wie ein modernes Märchen: Gerrit Thomas und Jens Kästel nahmen ungezählte CDs auf, sie waren mit ihren Live-Partnern in sämtlichen Ländern Europas auf Tour, sie traten in Südafrika, Südamerika, Russland, Kanada und den USA auf. „Funker Vogt“ kommt mit ihrem Sänger Jens Kästel kämpferisch rüber und spielt einen unnachahmlichen Mix aus derben Beats, hymnischen Melodien und druckvollen Club-Sounds.
Terminkollisionen zwischen Kreisliga-Fußball und internationaler Musik? „Gibt es selten“, berichtet Kästel. Vieles sei eine Frage der Planung, es gäbe wenig Parallelen, findet er. Eine Gemeinsamkeit gibt es: die Lautstärke von Jens Kästel, auf der Bühne und am Spielfeldrand. „Ich bin aber ruhiger geworden“, behauptet er, „rege mich nur noch auf, wenn meine Mannschaft ungerecht behandelt wird.“ Das wiederum könnte etwas mit seiner Vergangenheit zu tun haben.
Schaumburger Zeitung-Jörg Bressem